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Karlspreisverleihung 2020/2021

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ich freue mich sehr, Sie alle mit mehr als einem Jahr Verspätung endlich live und in Person im Krönungssaal unseres Rathauses begrüßen zu dürfen und heiße Sie herzlich willkommen zur Verleihung des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen 2020 an Klaus Iohannis.

Es ist eine große Freude, den Karlspreisträger 2020/21 begrüßen zu dürfen, S. E. Klaus Iohannis, den Präsidenten von Rumänien.

Wir fühlen uns sehr geehrt, dass der Präsident des Europäischen Rates, S. E. Charles Michel, bei uns in Aachen ist und die Festansprache zu Ehren unseres Preisträgers halten wird.

Wir begrüßen die slowakische Präsidentin, I. E. Zuzana Čaputová und den Präsidenten des Deutschen Bundestages und ehemaligen Preisträger des Jahres 2012, Herrn Dr. Wolfgang Schäuble.

Ein herzliches Willkommen gilt der ehemaligen Preisträgerin Frau Dr. Dalia Grybauskaitė sowie den ehemaligen Preisträgern Graf Hermann Van Rompuy und Martin Schulz.

Wir begrüßen die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Frau Věra Jourová, sowie die Vertreterinnen und Vertreter des Dipl. Korps.

Wir begrüßen den Parlamentspräsidenten der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, Herrn Karl-Heinz Lambertz, sowie die Damen und Herren Abgeordneten von Bund und Land.

Wir freuen uns über die Anwesenheit der Bundesministerin für Justiz und Verbraucherschutz, Frau Christine Lambrecht, und der Staatsministerin für Internationale Kulturpolitik, Frau Michelle Müntefering.

Herzlich willkommen sind uns auch die heute anwesenden Vertreterinnen und Vertreter der Kirchen und Religionsgemeinschaften.

Der Karlspreis soll “nicht nur auf das ungelöste Problem der europäischen Einigung immer wieder mahnend hinweisen, sondern versuchen, auch Wege zur praktischen Lösung dieser drängenden Frage aufzuzeigen.” So haben es die Gründer in ihrer Proklamation von 1949 beschrieben. Wahrscheinlich haben sie sich damals nicht vorstellen können, dass es über vierzig Jahre bis zu einer Einigung in Form des Maastrichter Vertrages dauern wird. Aber wenn sie das heutige Europa sehen könnten, würden sich die Gründerväter (ja, es waren damals ausschließlich Männer) ganz sicher in ihren Zielen bestätigt fühlen. Denn heute leben wir in einem friedlicheren, in einem stärkeren, in einem gerechteren Europa.

Unser heutiges Europa hat aber nicht nur eine einheitliche Währung oder eine gemeinsame Wirtschaftspolitik. Nein. Die Menschen auf unserem Kontinent leben dieses Europa. Ganz selbstverständlich studieren und arbeiten wir über früher scheinbar unüberwindbare Grenzen hinweg. Wir lernen voneinander und miteinander, tauschen uns auf allen Ebenen aus, bereichern uns gegenseitig jeden Tag – und sind so viel mehr als die Summe unserer einzelnen Teile. Darauf können wir stolz sein. Dieser Stärken dürfen wir uns nicht berauben.

Wir werden sie brauchen, wenn wir uns die Herausforderungen anschauen, in denen wir uns befinden – und vor allem: die noch auf uns zukommen werden. Wir bilden eine Solidargemeinschaft, die alternativlos ist. Oder wie einer der beiden Karlspreisträger von 1988 es ausgedrückt hat: “Europa ist unsere Zukunft. Europa ist unser Schicksal.” Helmut Kohl meinte damit nicht etwa ein Schicksal, dem wir hilflos ausgeliefert sind, sondern eines, das wir in die Hand nehmen können, das wir gestalten können – gestalten müssen.

Wie wichtig es ist – und wird –, zu gemeinsamen Antworten auf die drängendsten Fragen zu gelangen, erleben wir alle gerade sehr eindringlich an den verschiedensten Stellen.

Die Pandemie, in der wir uns nach wie vor befinden, interessiert sich nicht für Grenzen. Kein Land der Welt wird sie alleine besiegen. Wir sitzen zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit tatsächlich alle im selben Boot.

Doch während wir mit dieser Pandemie weiterhin werden leben können – und dauerhaft werden leben müssen, ist die Bedrohung durch den Klimawandel von existenzieller Bedeutung für die Menschheit. Wir können ihn vielleicht und verbunden mit größten Anstrengungen verlangsamen, aber gegen diesen Wandel wird es keinen Impfstoff geben, er ist nicht einfach heilbar. Unsere Welt, so wie sie heute ist, wird morgen nicht mehr so sein. Doch leider hat auch diese Klima-Krise bisher nicht dazu geführt, dass wir endlich begreifen, dass es nur zusammen geht. Auch nicht in Europa.

Dabei hätten gerade wir in Europa mit unseren eben angesprochenen Stärken eine großartige Chance gehabt, als Vorbild zu dienen, als starkes Modell der Zukunft, das sich auf die ganze Welt übertragen lässt. Diese Chance haben wir bisher verpasst. Und auch wenn wir mit dem “European Green (New) Deal” einen neuen Anlauf wagen, stellt sich inzwischen die Frage, ob uns die Welt, in der wir leben, überhaupt noch eine weitere Chance dazu geben wird. Denn auch ohne den aktuellen Bericht des Weltklimarates sendet unsere Erde immer deutlichere Warn-Signale, dass der Klimawandel gerade erst anfängt, sich gegen seinen Verursacher zu richten: den Menschen.

Wir haben jahrzehntelang über alle Maßen großzügig im Versprechen auf endloses Wachstum und ohne jede Rücksicht auf diesen Planeten gelebt – und bekommen jetzt die Quittung dafür.

Stürme, Dürren und Hochwasser nehmen in einer immer schnelleren Taktung zu. Weltweit und – wie die Pandemie – ohne jegliche Grenzen zu kennen, macht uns die Natur so auf drastische Weise klar, wie fragil unser Wohlstand ist. Unsere Häuser, Straßen und Fabriken, unsere Schulen, Museen und Universitäten. Nichts davon ist sicher. Und damit steht unsere ganze Art zu leben auf dem Spiel.

Schon heute schrumpft der lebenswerte Raum auf der Welt jeden Tag, und die Zahl der “Klimaflüchtlinge” – Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, weil sie dort schlicht nicht mehr leben können – wird stetig steigen. Vielleicht gehören in Zukunft auch Menschen aus unseren Breitengeraden dazu. Dabei sind wir bisher noch nicht einmal in der Lage, uns endlich auf die Aufnahme von politischen, von Wirtschafts- und Armutsflüchtlingen zu verständigen. Das ist ein Armutszeugnis für Europa!

Doch was machen wir nach jeder dieser Katastrophen? Wir sind betroffen, wir spenden, wir bewundern und beschwören die Solidarität vor Ort und leben vielleicht eine Zeit lang etwas bewusster. Doch frühestens, wenn das nächste “große Thema” die Schlagzeilen beherrscht – und spätestens, nachdem wir die Folgen beseitigt haben, verdrängen wir lieber schnell wieder, dass keine dieser Handlungen etwas an den Ursachen der Katastrophen ändert. Am liebsten machen wir weiter wie bisher.

Dabei hätte uns die Bedrohung durch Naturkatastrophen direkt vor unserer Haustür eigentlich längst klarmachen sollen, dass die Zeit der Ausreden vorbei ist – und es ein “Weiter so” nicht mehr geben darf! Denn sonst wird der Mensch zu einer Randnotiz der Erdgeschichte – und wir können die uns zur Verfügung stehende Zeit auf unserem Planeten nur noch abwickeln.

Am Ende wird die Natur sich durchsetzen. Die Erde braucht den Menschen nicht. Der Mensch ist aber auf die Erde angewiesen!

Wenn ich mich hier so umschaue – und ich will damit niemandem zu nahe treten – würden viele von uns dieses Ende selbst bei den düstersten Prognosen aller Voraussicht nach nicht mehr erleben.

Auch wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der vergangenen Woche eine Klage von sechs Kindern gegen die Regierungen von 33 europäischen Staaten zugelassen hat, mit der sie wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel einfordern. Auch wenn es vor der Bundestagswahl erste Hungerstreiks von jungen Menschen gab, die endlich gehört werden wollen und auch wenn niemand mehr bestreiten kann, dass der Klimaschutz teurer wird, umso länger wir damit warten ... All das könnte uns egal sein! Schließlich hatten und haben wir ein gutes, ein erfülltes Leben, sollen sich doch die nachkommenden Generationen darum kümmern ...

Aber wenn ich mich hier so umschaue weiß ich zum Glück, dass niemand von Ihnen so denkt. Dass es niemandem egal ist, dass ein heute geborenes Kind bei der derzeitigen Klimastrategie im Schnitt doppelt so viele Waldbrände, dreimal so viele Überschwemmungen und sieben Mal so viele Hitzewellen erleben wird wie ein 1960 geborener Erdenbürger. Wir sind uns nämlich unseres Anteils an der aktuellen Situation bewusst, und noch mehr unserer großen Verantwortung gegenüber unseren Kindern und Enkeln, ihnen eine zukunftsfähige Welt zu hinterlassen.

Die nächsten Generationen haben ein Recht darauf und wir haben dafür zu sorgen, den jungen Menschen dieses Recht zu sichern. Nicht, weil es sonst teuer wird, nicht, weil wir verklagt werden, sondern weil es das einzige Richtige ist! Doch wie können wir das schaffen?

Die aktuellen Wahlen und auch die in vielen Fragen uneinige Europäische Staatengemeinschaft zeigen leider, dass selbst im Angesicht der Katastrophen noch nicht bei allen dieses Umdenken stattgefunden hat. Dabei muss genau das sofort und in einem viel drastischeren Ausmaß passieren – beim Wirtschaften, bei der Energieerzeugung, bei der Reduktion des CO2-Ausstoßes.

Natürlich müssen wir die Menschen überzeugen, sie mitnehmen, sie ermutigen, ein neues, ein anderes Leben als Chance zu begreifen. Bei uns zuhause, in den Kommunen, in den einzelnen Ländern, aber auch in der Europäischen Gemeinschaft als Ganzem.

Nur: Dabei können wir nicht mehr auf jeden warten! Wir müssen jetzt handeln, wir müssen mutig handeln!

Die Europäischen Union, wie wir sie heute kennen, wäre niemals entstanden, wenn ihre Gründer nur abgewartet hätten, bis sich alle einig waren. Sie hatten eine mutige Vision, von der sie sich nicht haben abbringen lassen. Und genau das ist es, wo wir – 75 Jahre nach dem 2. Weltkrieg – auch wieder hinkommen müssen: Zu agieren statt immer nur zu reagieren!

Von dem vor uns liegenden Weg dürfen wir uns weder von den bürokratischen Strukturen der EU, noch von Jenen, die entgegen aller Fakten eine rein technologische Lösung unserer Probleme propagieren, abbringen lassen. Das können wir uns nicht mehr leisten.

Denn wie schon gesagt: Dieser Weg ist alternativlos!

Dabei haben wir in Europa alles, was es braucht, diesen Weg zu gehen! Wir haben hervorragende Wissenschaftler*innen, eine starke Volkswirtschaft und gute, stabile Lebensbedingungen.

Außerdem durften wir während der Hochwasserkatastrophe in diesem Sommer nicht nur eine kaum noch für möglich gehaltene Solidarität erleben, sondern haben mit unseren gemeinsamen Anstrengungen unter anderem hier in der Region auch bewiesen, dass Europa sehr wohl über die Grenzen der einzelnen Länder hinweg handlungsfähig sein kann.

Auf diese, unsere Stärken sollten wir uns besinnen – und auf sie vertrauen!

Gerade weil wir in Anbetracht der vor uns stehenden, riesigen Herausforderungen nicht mehr warten können, bis alle Einzelstaaten in jeder Frage auf einer Linie sind – wie nicht zuletzt die Auseinandersetzungen um den Brexit oder die Differenzen mit einigen Staaten im Osten Europas gezeigt haben – müssen wir umso wachsamer sein. Denn Europa, unser Schicksal, ist nach wie vor ein fragiles Gebilde, das es zu (be-)schützen gilt.

Deshalb sind wir besonders froh, in unserem heutigen Preisträger Klaus Iohannis einen Verbündeten zu haben, der die Idee eines gemeinsam starken Europas teilt, unseren Wertekanon lebt und sein politisches Wirken nach ihm ausgerichtet hat. “Er ist ein wichtiger Mittler und Brückenbauer zwischen west- und osteuropäischen Gesellschaften”, wie es unter anderem in der Begründung für die Verleihung heißt.

Seit Beginn seiner politischen Karriere ist Klaus Iohannis ein mutiger Macher, der die Menschen mitnimmt, indem er ihnen etwas zutraut und ihnen auch vertraut. Das sind Eigenschaften, an denen wir alle uns ein Beispiel nehmen sollten und die wir für die Anstrengungen der Zukunft dringend brauchen.

Die europäische Idee hat in den vergangenen 75 Jahren alle möglichen Krisen, Rückschläge und Auseinandersetzungen überlebt. Jetzt steht unsere großartige und über die Jahrzehnte mit immer mehr Leben gefüllte Vision erneut auf dem Prüfstand – und dieses Mal geht es um Alles.

Erinnern wir uns (zum Abschluss) noch einmal an die Worte der Gründer des Karlspreises, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, “Wege zur praktischen Lösung dieser drängenden Frage aufzuzeigen ...” und dann lassen Sie uns unser Schicksal in die Hand nehmen, lassen Sie uns Brücken bauen und gemeinsam mit der Jugend Europas einen echten, einen mutigen, einen kompromisslosen Neuanfang wagen! Weg von einem zerstrittenen, bürokratischen, zögernden Europa – hin zu einem Europa der Macherinnen und Macher!

Vielen Dank!

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Aufzeichnung der Preisverleihung (WDR Mediathek)

18.11.2022