Volkstrauertag
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
ich begrüße Sie hier auf dem Waldfriedhof und danke Ihnen für Ihr Kommen. Wir haben uns hier versammelt, um der Menschen zu gedenken, die in der Vergangenheit wie in unserer Gegenwart Opfer von Krieg und Gewalt wurden, und um uns zu fragen, was wir heute für Frieden, Freiheit und die Wahrung der Menschenrechte tun können.
77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs werden die Zeitzeugen immer weniger, beziehungsweise fehlen ganz. Da schweigen Stimmen, die aus erster Hand über die Gräuel und Grausamkeiten des Krieges berichten und aktiv und mit Leidenschaft dafür eingestanden sind, dass es in Deutschland und weltweit keine Alternative zu Frieden geben darf. Die Lebensberichte von Vater oder Großvater als Wissensvermittlung aus persönlicher Erfahrung für junge Menschen sind verschwunden. Heutige Jugendliche erleben die Zeit nur noch in Form wissenschaftlich abstrakter Historikertexte aus Schulbüchern.
Wir müssen versuchen, auch Jugendliche und junge Erwachsene in das Gedenken mit hineinzunehmen. Ja, ihnen anschaulich begreifbar zu machen, dass es beim Volkstrauertag nicht um ein verstaubtes Ritual aus einer fernen Vergangenheit geht. Dass es um mehr geht als um eine langweilig gewordene Tradition.
Wir erinnern uns heute an die unzähligen Toten der Kriege, von Gewalt und Terror und an die Opfer von Vertreibungen. Wir gedenken nicht nur jener Menschen, die unter den Deutschen während den finstersten Abschnitten unserer eigenen Geschichte gelitten haben, sondern auch all jener, die bis heute unter bewaffneten Auseinandersetzungen, Terror und Folter leiden und an deren Folgen sterben.
Seit dem frühen Morgen des 24. Februar 2022 rollten die russischen Panzer und die ersten Raketen schlugen in der Ukraine ein. Kaum jemand hielt dies für möglich. Wir hofften auf ein schnelles Ende, doch fast neun Monate später ist es noch immer nicht in Sicht. Täglich verlieren Menschen ihr Leben, werden Wohnungen und Häuser zerstört, Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser und Arbeitsstätte in Schutt und Asche gelegt. Mit unfassbarem Leid und unverminderter Härte tobt der Krieg weiter.
Die unendliche Trauer und der tiefe Verlustschmerz sind universell. Unerheblich, ob es um Franzosen, Russen, Engländer oder Deutsche geht. Unerheblich, ob es um Syrer, Afghanen, Iraker oder Nigerianer geht. Unerheblich, ob um Kurden, Sudanesen oder Ukrainer.
Ein friedliches Zusammenleben ist nur mit Verständigung, Verständnis, Respekt und wechselseitiger Rücksichtnahme möglich. Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wir können zeigen, dass es möglich ist, zu einem friedlichen Miteinander zu finden.
Das Schicksal der Menschen, die vor Bürgerkrieg und Verfolgung, vor Terror oder bitterster Armut fliehen, darf uns nicht gleichgültig lassen. Sie brauchen eine Zufluchtsstätte, in der sie sich angenommen fühlen und in der sie sicher leben können. Ich bin froh und dankbar, dass sich bei uns in Aachen viele Menschen und Initiativen um die Geflüchteten kümmern. So wie ich froh und dankbar bin, dass viele Aachener*innen gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus aufstehen.
Und genau darauf setze ich alle Hoffnung: dass die Erinnerung an das Leid des Krieges nicht in Rache mündet, sondern immer mehr Menschen und Nationen den Ausweg in einem friedlichen Zusammenleben der Völker suchen lässt.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, lassen Sie uns ein Zeichen für Frieden und ein menschenwürdiges Dasein setzen. Und ein Zeichen gegen das Vergessen, das Verdrängen und das Verfälschen. Denn Erinnern heißt, auf die Botschaft der Opfer zu hören und sich der Wahrheit zu stellen.
Frieden zu stiften und zu erhalten, ist oft mühsam und langwierig. Wir alle müssen uns dafür täglich einsetzen. Hass und Gewalt können eingedämmt werden. Versöhnung kann stattfinden, auch über Gräbern.