Begründung des Direktoriums der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen an den Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und Generalsekretär des Rates der Europäischen Union Dr. Javier Solana Madariaga
Historisch-politisch erfährt das Projekt Europa seine Legitimation durch den Auftrag, Frieden in Freiheit dauerhaft zu sichern und wirtschaftliches Wohlergehen und soziale Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. Der jungen Generation bietet das Vereinte Europa Chancen, von denen die älteren Generationen, die zwei Weltkriege miterleben mussten, nicht einmal zu träumen wagten. Indes macht eine Vielzahl von Konflikten, mit denen wir täglich konfrontiert sind, deutlich, dass neue Gefahren und Risiken drohen; Risiken, die sehr viel komplexer und vielfältiger sind, als die Reduktion auf einen vermeintlichen „Kampf der Kulturen“ suggeriert, und die mit ihrer transnationalen Durchschlagskraft jeden treffen können. Wenn die Weltordnung des 21. Jahrhunderts eine Ordnung des Friedens und der Freiheit sein soll, dann kann die Europäische Union nicht nur eine Errungenschaft für Europa selbst sein, sondern hat auch eine Aufgabe in der Welt.
Deshalb kann es sich das Vereinte Europa nicht leisten, auf eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu verzichten. Denn nur im Rahmen gemeinschaftlichen Handelns kann die Wahrung der gemeinsamen Werte, der grundlegenden Interessen, der Unabhängigkeit und der Unversehrtheit der Union gewährleistet werden. Und nur im Rahmen gemeinschaftlichen Handelns kann Europa seine Verantwortung für den Ausgleich bestehender Ungleichgewichte und für den Frieden in der Welt ernsthaft wahrnehmen.
In Würdigung dieser vornehmen Zielsetzung, die auch sechs Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ebenso dringlich wie aktuell ist, und in Anerkennung seines herausragenden Engagements für einen substanziellen Beitrag Europas zu einer sichereren und gerechteren Welt ehrt das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen im Jahre 2007 den Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und Generalsekretär des Rates der Europäischen Union, Dr. Javier Solana Madariaga.
Die Europäische Union ist eine Handels- und Weltwirtschaftsmacht und mit rund 450 Millionen Verbrauchern der kaufkräftigste Binnenmarkt der Welt. Auf die Gemeinschaft und ihre Mitgliedsstaaten entfallen über 50 Prozent der gesamten öffentlichen Entwicklungshilfe. Umso weniger kann sich die Union auf Dauer mit der Rolle des Wirtschaftsriesen zufrieden geben, sondern muss vor allem als Politische Union mit einer Stimme sprechen.
So wichtig die wirtschafts- und währungspolitische Integration unseres Kontinents auch war und bleiben wird – die Stabilität Europas ist in erster Linie bestimmt durch die Außen- und Sicherheitspolitik. Deshalb ist es unerlässlich, dass sich die Union auf diesem Felde dezidierter als in der Vergangenheit auf ihre gemeinsame Verantwortung besinnt, denn die Europäer haben einen großen Beitrag zu leisten
- zur Wahrung des Friedens,
- zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten,
- zur Stärkung der internationalen Sicherheit,
- zur Förderung der internationalen Zusammenarbeit und
- zur Entwicklung und Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Mit Javier Solana hat die Europäische Union einen der erfahrensten und bedeutendsten Außen- und Sicherheitspolitiker mit der Formulierung und Koordination einer so gearteten gemeinsamen Politik betraut, und alle Regierungen der Mitgliedsstaaten sollten sich ebenso wie die Bürgerinnen und Bürger im Vereinten Europa dazu verstehen, ihn in dieser Aufgabe, die gleichermaßen sinnstiftend nach innen wirkt, nachdrücklich zu unterstützen.
Javier Solana Madariaga, der verheiratet und Vater zweier Kinder ist, wurde am 14. Juli 1942 als Sohn eines Chemieprofessors in Madrid geboren und wuchs in einer demokratisch-liberal gesinnten Familie auf; seine Mutter war eine Nichte des Schriftstellers Salvador de Madariaga. Nach dem Besuch des privaten Elite-Gymnasiums El Pilar begann Solana ein Physikstudium an der Universität Complutense in Madrid, wurde aber wegen der Teilnahme an Protestaktionen gegen die Franco-Diktatur exmatrikuliert und musste seine Studien in den Niederlanden, Großbritannien und den Vereinigten Staaten fortsetzen; 1968 wurde er in den USA als Physiker promoviert. Im Anschluss hieran zunächst an der Universität von Virginia beschäftigt, kehrte er 1971 nach Spanien zurück und betätigte sich an der Autonomen Madrider Universität als Physikdozent, bis ihm einer der letzten Erziehungsminister Francos aus politischen Gründen den Vertrag aufkündigte. Erst 1975 erhielt er als Professor für Physik an seiner ursprünglichen Hochschule, der Universität Complutense, erneut eine wissenschaftliche Aufgabe.
Politisch hatte er sich zu diesem Zeitpunkt bereits einen Namen gemacht. Schon als Student der Sozialistischen Arbeiterpartei Spaniens (PSOE) beigetreten, war Solana viele Jahre Verantwortlicher der PSOE für den Bezirk Madrid. 1977 wählten ihn die Einwohner der Hauptstadt erstmals ins Parlament. Bei Amtsantritt der sozialistischen Regierung unter Felipe González wurde er 1982 zum Kulturminister ernannt (ab 1985 gleichzeitig Regierungssprecher). 1988 wechselte er in das Bildungs- und Wissenschaftsministerium. Im Juli 1992 schließlich berief ihn Gonzáles zum Außenminister.
Weltläufigkeit, Sachverstand, Härte und Ausdauer, aber auch Versöhnlichkeit und Verbindlichkeit im Ton machten ihn zu einem weithin geachteten und erfolgreichen Diplomaten; besonders gelobt wurde seine Amtsführung während der spanischen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 1995, im Zuge derer er die – später als „Barcelona-Prozess“ bekannt gewordene – Euro-Mediterrane Partnerschaft mit initiierte. So war es denn auch wenig überraschend, dass Solana – der in jungen Jahren entschiedener NATO-Kritiker gewesen war – große Zustimmung für seine Kandidatur für das Amt des NATO-Generalsekretärs fand. Am 5. Dezember 1995 wurde er von den Mitgliedern des Atlantischen Bündnisses in Brüssel offiziell und einstimmig ernannt; wenige Tage darauf trat er sein Amt am 18. Dezember 1995 an.
Von Beginn an stand die Neuorientierung des Nordatlantikpaktes nach Osten im Mittelpunkt von Solanas Engagement. Wesentliche Bedeutung kam in diesem Zusammenhang dem Sicherheitsabkommen zwischen der NATO und Russland zu, das Solana nach monatelangen Verhandlungen erreichen konnte und das Grundlage umfangreicher Abrüstungsmaßnahmen war. Die Beitrittsverhandlungen mit Polen, Tschechien und Ungarn, die allgemein auch als beispielgebend für den Erweiterungsprozess der Europäischen Union angesehen wurden, konnten am 27. November 1997 abgeschlossen werden; im April 1999 wurden die neuen Mitglieder in das Bündnis aufgenommen.
Als die Regierungschefs der EU-Staaten Solana Anfang Juni 1999 auf dem Kölner EU-Gipfel noch vor Ablauf von dessen Amtszeit als NATO-Generalsekretär zum Generalsekretär des Rates und ersten „Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP) ernannten, nahmen sie sich mit dieser Wahl bewusst in die Pflicht. Denn derjenige, der die Politik der Gemeinschaft auf diesem existenziellen Feld formulieren, koordinieren und sichtbar machen sollte, war von vornherein mit der Autorität eines Partners, nicht der eines willfährigen Beamten ausgestattet. Am 18. Oktober desselben Jahres trat der Spanier sein neues Amt an. Mit dem Ziel, die Militärorganisation möglichst rasch in die Gemeinschaft überzuleiten, ernannten die Botschafter der WEU-Staaten ihn zudem zum Generalsekretär der Westeuropäischen Union.
Von der breiten Öffentlichkeit vielfach nur unzureichend wahrgenommen, verkörpert Javier Solana als so genannter „Mr. GASP“ seither die Bemühungen der EU, in zentralen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik mit einer Stimme zu sprechen: in den Krisenherden im ehemaligen Jugoslawien, in Tschetschenien und im Nahen Osten, auf dem afrikanischen Kontinent, den Philippinen und in der Ukraine, und als maßgebliche Antriebsfeder einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die vor allem die zivilen Aspekte der Krisenbewältigung hervorhebt. „Wenn es brennt irgendwo auf der Welt, eilt Solana auf die diplomatische Bühne und die Stimme Europas ist deutlich zu hören“ (Süddeutsche Zeitung vom 14. Juni 2001).
Die rasche Überführung der WEU in die Verantwortung der Europäischen Union, das mit geradezu atemberaubender Geschwindigkeit entwickelte Konzept für Europäische Krisenreaktionskräfte und die Erfolge auf dem Weg zu einer tragfähigen Nachkriegsordnung auf dem Balkan wären ohne die beharrlichen Bemühungen des Spaniers wohl ebenso wenig zustande gekommen wie die ersten internationalen Krisenmanagement-Operationen der EU und die neue europäische Sicherheitsstrategie.
Die große Wertschätzung, die Javier Solana genießt, wurde denn auch einmal mehr deutlich, als ihn die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten am 29. Juni 2004 für eine weitere fünfjährige Amtsperiode im Amt des Generalsekretärs des Europäischen Rates und als Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bestätigten. Darüber hinaus wurde festgelegt, dass er mit Inkrafttreten des europäischen Verfassungsvertrags der erste Außenminister der Union werden und für die Kohärenz des auswärtigen Handelns aller Organe der EU sorgen soll.
Durch seine beeindruckende persönliche Biografie ebenso wie durch die herausragende gestalterische Aufgabe, die er als Hoher Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik übernommen hat, ist Dr. Javier Solana Madariaga zu einem Hoffnungsträger geworden für die Vertiefung der politischen Dimension Europas, die euro-atlantische Partnerschaft und den Anspruch der Union, durch gemeinschaftliches Handeln auf der Grundlage gemeinsamer Werte und Überzeugungen einen maßgeblichen Beitrag zum Frieden in der Welt zu leisten. Das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen verbindet mit der Auszeichnung des "Mr. GASP" im Jahre 2007 den ausdrücklichen Appell an die Mitgliedsstaaten der EU, der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik als einem zentralen und sinnstiftenden Baustein des Hauses Europa künftig eine noch höhere Bedeutung beizumessen.