Begründung des Direktoriums
für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen
an den Premierminister des Großherzogtums Luxemburg Dr. Jean-Claude Juncker
„Ein Organismus ohne Seele ist tot. Ein geeintes Europa braucht eine Seele.“ Dieser Ausspruch von Jacques Delors, Karlspreisträger des Jahres 1992, unterstreicht Wesentliches. Weit über manch tagesaktuelle Probleme hinausgehend, gilt es, den Blick darauf zu richten, was Europa im Innersten zusammenhält und was den Standort der Gemeinschaft in der Welt in einem ganz wesentlichen Maße definiert: Die Europäische Union ist der großartigste und erfolgreichste Versuch, Frieden und Freiheit auf dem gesamten Kontinent zu schaffen und zu sichern; ein Friede in Freiheit, der nicht auf den Gleichgewichten der Macht beruht, sondern auf der Gemeinsamkeit von Werten und Institutionen.
Dennoch ist unübersehbar, dass eine wirkliche gemeinsame europäische Identität noch nicht existiert, dass zwischen den Bürgerinnen und Bürgern in den Mitgliedsstaaten und ihren europäischen Einrichtungen eine große Distanz verblieben ist. Hieraus resultieren Verunsicherungen, Ängste, Sorgen und Erwartungen, die ernst genommen werden müssen. Mehr denn je braucht die Europäische Union den offenen Dialog zwischen Politik und Bevölkerung. Und mehr denn je braucht sie visionäre Führungspersönlichkeiten, die die Bürger für das europäische Einigungswerk gewinnen; Gestalter, die die Chancen, die das Vereinte Europa für seine Bevölkerung bereithält, spüren, erblicken und in praktische Politik umsetzen.
In Würdigung seiner Rolle als Motor und entscheidender Akteur bei nahezu allen Integrationsfortschritten der vergangenen zwei Jahrzehnte, als Vermittler, Mediator und Brückenbauer zwischen Politik und Bevölkerung ebenso wie zwischen den so unterschied-lichen Mitgliedern der Gemeinschaft, und in Anerkennung seiner Rolle als ein Vordenker des Vereinten Europas der Zukunft ehrt das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen im Jahre 2006 den Regierungschef des Großherzogtums Luxemburg, Herrn Premierminister Dr. h.c. Jean-Claude Juncker.
„Wer zweifelt, wer an Europa verzweifelt, der sollte Soldatenfriedhöfe besuchen.“ Mit diesem Satz erinnert Juncker eindringlich daran, dass Frieden in Europa keineswegs selbstverständlich ist. Die ältere Generation hat dies bitter erfahren müssen. Seiner Meinung nach sind die Europäer „nicht stolz genug auf das, was die Kriegsgeneration aus Schutt und Asche aufgebaut“ hat. Für die Jugend von heute ist Krieg zwischen den Staaten der EU undenkbar – mit Recht. Und wenn Jean-Claude Juncker erklärt, warum er stets „dabei sein will, wenn irgendwo der Versuch gestartet wird, für mehr Europa zu sorgen“, dann sind es diese ganz grundsätzlichen Erwägungen, die den Regierungschef des kleinsten EU-Gründungsmitglieds umtreiben.
Obwohl gerade erst 51-jährig, hat Juncker länger als jeder andere Regierungschef an führen-der Stelle bei der Fortentwicklung des europäischen Integrationsprozesses entscheidend mitgewirkt: so 1986 bei der Einheitlichen Europäischen Akte, die zum Binnenmarkt führte, 1992 beim Vertrag von Maastricht, als die Europäische Union die Europäische Gemeinschaft ablöste und die Währungsunion sowie die Einführung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beschlossen wurde, 1996 bei der Verabredung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, im Dezember 2000 beim Vertrag von Nizza, ein Jahr darauf bei der Einrichtung des Konvents, im Dezember 2002, als in Kopenhagen der umfassende Zusammenschluss unseres Kontinents endgültig beschlossen wurde, ebenso wie im vergangenen Jahr 2004, dem Jahr der Erweiterung und der Unterzeichnung des Verfassungsvertrags. Bei all diesen Integrationsschritten war Juncker Motor und entscheidender Akteur im Bestreben, dass ein Ausgleich der europäischen mit den unterschiedlichen nationalen Interessen erfolgen konnte. Leidenschaftlich und mit großer Überzeugungskraft vertritt er dabei seine Vorstellung eines wirtschaftlich starken, innovativen, aber gleichermaßen sozial gerechten Europas.
Jean-Claude Juncker wurde am 9. Dezember 1954 in Rédange-sur-Attert als Sohn eines Stahlarbeiters geboren. Nach einem Jura-Studium an der Universität Straßburg arbeitete er zunächst als Rechtsanwalt und trat – noch nebenberuflich – als Fraktionssekretär in die Dienste der Christlich Sozialen Volkspartei (CSV), deren Jugendverband er vorsaß.
Ende 1982 berief der damalige Regierungschef Pierre Werner den gerade 28jährigen als Staatssekretär für Arbeit und soziale Sicherheit in seine Regierung. Im Juni 1984 erstmals ins luxemburgische Parlament gewählt, konnte Juncker seinen Aufgaben- und Einflussbereich rasch erweitern und wurde zum Arbeitsminister und delegierten Minister beim Finanzminister mit der Zuständigkeit für Fragen des Staatshaushalts ernannt. 1989 stieg er mit der Ernennung zum Arbeits- und Finanzminister endgültig zum „zweiten Mann“ hinter dem neuen Regierungschef, seinem Freund und Förderer Jacques Santer, auf. Bei den Parlamentswahlen im Juni 1994 konnte die Volkspartei, zu deren Präsident Juncker vier Jahre zuvor gewählt worden war, ihre führende Position halten. Als Regierungschef Santer 1995 die Nachfolge von EU-Kommissionspräsident Jacques Delors antrat, wurde Juncker erwartungsgemäß am 26. Januar 1995 zum Premierminister Luxemburgs gewählt. Auch in dieser Funktion behielt er seine bisherigen Ressorts bei und übernahm zusätzlich das Schatzministerium.
Umgehend nach seinem Amtsantritt kündigte Juncker eine aktivere Europapolitik an und wandte sich nachhaltig gegen eine Aufweichung des Maastrichter Vertrages und der Konver-genzkriterien für die Währungsunion. Breite internationale Beachtung fand er anlässlich des Dubliner EU-Gipfels im Dezember 1996, als er dem von Theo Waigel und Carlo Ciampi maßgeblich mit initiierten Stabilitäts- und Wachstumspakt zum Durchbruch verhalf. „Dabei hat es nicht geschadet, dass Juncker mehr Ahnung von der Währungsunion hat als alle anderen Premiers und Kanzler zusammen“ (taz vom 20. Dezember 1996), merkten damals respektvoll die politischen Beobachter an. Als die Finanzminister der Währungsunion sich 2004 auf einen längerfristigen Vorsitz für die Eurozone einigten, konnte es denn auch niemanden ernsthaft verwundern, dass die Wahl auf Jean-Claude Juncker fiel, der dieses Amt am 1. Januar 2005 für zwei Jahre antrat und mit einer moderaten Reform des Stabilitätspaktes bereits im März 2005 eine lange Phase der währungspolitischen Unsicherheit beenden konnte.
Wenngleich ob der äußerst effektiven Organisation hochgelobt, war der luxemburgischen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2005 weniger Erfolg beschieden. Trotz aller Bemühungen des Regierungschefs blieb eine Einigung über die finanzielle Vorausschau 2007 bis 2013 vorläufig aus; nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und in den Nieder-landen wurde zudem eine „Denkpause“ bezüglich des Verfassungsvertrags verabredet, der erst im Oktober 2004 unterzeichnet, jedoch noch nicht von allen Mitgliedern ratifiziert worden war. Indes bewies Jean-Claude Juncker gerade in dieser Zeit der Krise der EU einmal mehr Standfestigkeit, Beharrlichkeit und energische Überzeugungskraft. So hielt er, anders als mancher Amtskollege in anderen Mitgliedsstaaten, an der im Großherzogtum geplanten Volksabstimmung über die Verfassung fest und verknüpfte seine politische Zukunft mit einem positiven Votum seiner Landsleute. In dem ersten nationalen Referendum seit 1937 folgten die Luxemburger ihrem Regierungschef und sandten mit knapp 57%iger Zustimmung ein deutliches Signal für die Verfassung aus.
Insbesondere für seine europapolitischen Verdienste wurde Jean-Claude Juncker bereits vielfach ausgezeichnet, so als „Europäer des Jahres 2003“, als „Grand Officier de la Légion d’Honeur“, mit dem Eisernen Kreuz des Staates Rumänien und zuletzt mit dem Walter-Hallstein-Preis. Zudem ist er unter anderem Ehrendoktor der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Der polyglotte Premierminister, der fünf Sprachen fließend beherrscht, ist seit 1979 mit Christiane Frising verheiratet.
Jean-Claude Juncker, der 1999 von einer christlich-liberalen und 2004 abermals von einer christlich-sozialistischen Koalition eindrucksvoll im Amt bestätigt wurde, steht in einer Reihe profilierter Europapolitiker seines Landes, wie Joseph Bech, Pierre Werner und Jacques Santer, die immer wieder nationale Interessen mit integrationspolitischen europäischen Zielen verbunden haben. So verbittet er sich denn auch selbstbewusst jeden „geodemographischen Unterricht“ über die Größe seines Heimatlandes: „Seit ich denken kann, weiß ich, dass Luxemburg ein kleines Land ist.“ Aber „es ist im institutionellen Leben Europas wie in der Tierkunde auch: Ein Floh kann einen Löwen zum Wahnsinn treiben. Es ist aber kein Beispiel überliefert, dass ein Löwe einen Floh zum Wahnsinn getrieben hat. Insofern sollte man sich um das richtige Gleichgewicht zwischen Großen und Kleinen bemühen.“
Und so gehört der Luxemburger selbst dann zu den Vordenkern der Union, wenn es um Themenbereiche geht, bei denen seinem Heimatland nun wahrlich keine Führungsrolle zugedacht scheint – wie beispielsweise der Außen- und Sicherheitspolitik: „Dass wir in Sachen europäische Sicherheit, europäische Verteidigungs- und Außenpolitik zu mehr Gemeinsamkeiten kommen müssen, dass wir uns dort dezidierter als bisher auf unsere euro-päische Verantwortung besinnen müssen und eine gemeinsame Politik formulieren und ausführen, ist unerlässlich. Das, was für die Außen- und Sicherheitspolitik gilt, ist auch für die europäische Entwicklungshilfe richtig. [...] Die internationale Wirtschaftsordnung bleibt fundamental ungerecht, und die Europäer haben einen großen Beitrag dazu zu leisten, damit die Dinge gerechter und für die Menschen einfacher werden. Deshalb ist Entwicklungshilfe auch ein europäisches Projekt. Die Europäische Union sollte als Vorbild in dieser Frage für die ganze Welt dienen. Deshalb müssen wir in Europa dafür sorgen, dass die Beiträge, die wir für den Rest der Welt zu leisten im Stande sind, auch unseren Ambitionen für uns selbst ent-sprechen. Deshalb ist diese Außenwirkung der Europäischen Union etwas, das sehr wohl auch sinnstiftend nach innen wirken kann. Wir müssen Europa so gestalten, dass die Europäer wieder stolz auf Europa sein können. Stolz ist man auf sich selbst nur dann, wenn man auch für andere etwas bewirken kann.“
Das Großherzogtum Luxemburg zählt denn auch zu den wenigen Staaten in der Welt, die mehr als die von den Vereinten Nationen als Zielmarke gesetzten 0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für die Entwicklungshilfe zur Verfügung stellen.
Europapolitik ist für den Luxemburger eine Herzensangelegenheit, hat „nicht nur mit politischen Programmen und Grundsatzerklärungen zu tun. Es hat auch mit Menschen zu tun. Man kann für Europa nichts auf den Weg bringen, wenn man die Menschen nicht liebt. [...] Wer Völker abzählt wie riesige demographische Herden, ohne zu sehen, dass es dort um konkrete Menschen geht, der kann die Zukunft nicht gestalten.“
Mit Jean-Claude Juncker ehrt das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen im Jahre 2006 einen großen Europäer, der in bester Tradition des luxemburgischen Volkes mit Glaubwürdigkeit, Kompetenz, Beharrlichkeit und Leidenschaft Motor und Vordenker des Integrationsprozesses ist und dem es wie nur wenigen anderen gelingt, die Bürgerinnen und Bürger für das europäische Einigungswerk zu begeistern und zu gewinnen.