Begründung des Direktoriums der
Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen
an die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Frau Dr. Angela Merkel
Europa hat den Stillstand überwunden, seine Handlungsfähigkeit zurück gewonnen und zu neuer gemeinsamer Kraft gefunden!
Noch im vergangenen Jahr befand sich das historische Projekt der Europäischen Union in einer sichtbaren Krise. Ängste vor scheinbar grenzenloser Erweiterung und einem „Superstaat“ Europa, Sorgen um wirtschaftlichen Wohlstand und soziale Sicherheit und Skepsis gegenüber Brüsseler Behörden – all dies fand seinen Ausdruck in einer Vertrauenslücke zwischen den europäischen Institutionen und den Bürgerinnen und Bürgern.
Heute machen wir eine neue, positive Erfahrung. Die „Schockstarre“ hat sich gelöst. Wichtige politische Fragen sind entschieden, und der Dialog zwischen der Bevölkerung und den Repräsentanten der europäischen Politik ist wieder in Gang gekommen. Auch die Gesprächskultur der Mitgliedsstaaten untereinander hat sich geändert: Die Partnerschaft steht wieder im Vordergrund, was zur Lösung schwieriger Sachfragen maßgeblich beigetragen hat.
Die Weichenstellungen hin zu einem neuen Aufbruch der Union sind entscheidend verbunden mit der ebenso tatkräftigen wie umsichtigen und integrierenden Politik des EU-Ratsvorsitzes der deutschen Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel. In Würdigung ihres herausragenden Beitrags zur Überwindung der Krise der EU und in Anerkennung richtungweisender Entscheidungen zum Fortschreiten des europäischen Einigungsprozesses erhält sie im Jahre 2008 den Internationalen Karlspreis zu Aachen. Das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen ehrt hiermit eine überzeugte Europäerin für ihren bahnbrechenden Beitrag zum europäischen Grundlagenvertrag, ihre integrierende und menschliche, zugleich bestimmende und zielorientierte Verhandlungsführung, für ihre kluge Diplomatie und ihr engagiertes Auftreten für die Vertiefung der europäischen Integration.
„Mein ganzes Leben habe ich in Europa verbracht. In der Europäischen Union aber bin ich noch eine Jugendliche. Denn aufgewachsen bin ich in der ehemaligen DDR … Ich kenne die Europäische Union bis zu meinem 35. Lebensjahr also nur von außen, und ich kenne sie seit 1990 von innen… Von außen betrachtet ist die Europäische Union eine historische Erfolgsgeschichte ohne Beispiel… Aber auch von innen ist die Europäische Union ein wunderbares Haus. Ich finde sie von innen erlebt … sogar noch schöner … ich möchte aus diesem Haus nie wieder ausziehen.“ – Als Angela Merkel im Januar 2007 in Straßburg um die Unterstützung des Europäischen Parlaments warb, rief sie mit diesen Worten sehr bewusst ihre persönliche Biografie in Erinnerung. Denn mit der Bundeskanzlerin übernahm erstmals eine Frau den Vorsitz des Europäischen Rates, die einen Großteil ihres Lebens in einem ehemaligen Warschauer-Pakt-Staat verbracht hat.
Angela Merkel wurde am 17. Juli 1954 in Hamburg geboren. Indes übernahm ihr Vater, ein evangelischer Pastor, nur wenige Wochen später eine Pfarrei in Brandenburg, wo sie aufwuchs und 1973 in Templin ihr Abitur machte. Ein nachfolgendes Physikstudium an der Universität Leipzig schloss sie 1978 mit dem Diplom ab und arbeitete fortan bis 1990 am Zentralinstitut für Physikalische Chemie an der Ost-Berliner Akademie der Wissenschaften. 1986 wurde sie promoviert.
Im Zuge der friedlichen Revolution schloss sich Merkel Ende 1989 dem „Demokratischen Aufbruch“ an, dessen Öffentlichkeitsarbeit sie nur kurze Zeit später übernahm. Nach der Volkskammerwahl vom März 1990 und der Bildung einer Koalitionsregierung unter Lothar de Maiziere wurde sie stellvertretende Regierungssprecherin. Im Dezember 1990 zog sie – zwischenzeitlich in die CDU eingetreten – erstmals in den Deutschen Bundestag ein.
Im Januar 1991 berief Helmut Kohl die damals 36-Jährige als Ministerin für Frauen und Jugend in sein Kabinett; einige Monate später stieg sie zudem zur stellvertretenden Bundesvorsitzenden der CDU auf. Als sie Ende 1994 als Nachfolgerin von Klaus Töpfer die Leitung des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit übernahm, konnte sie sich, unter anderem als Vorsitzende des in Berlin tagenden UNO-Klimagipfels (März 1995), rasch profilieren.
Nach dem Verlust der Regierungsverantwortung übernahm Angela Merkel 1998 das Amt der Generalsekretärin der CDU. Im April 2000 schließlich wurde sie – als erste Frau in der Parteigeschichte – zur Vorsitzenden der CDU Deutschlands gewählt; zweieinhalb Jahre später übernahm sie zudem den Vorsitz der gemeinsamen Unionsfraktion.
Die im Nachgang zu der vorgezogenen Bundestagswahl vom September 2005 gebildete große Koalition aus CDU/CSU und SPD wählte sie am 22. November 2005 zur ersten Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. In ihrer Regierungserklärung machte sie – ungeachtet der herben Rückschläge, die das Projekt Europa bei den Referenden in Frankreich und den Niederlanden erfahren hatte – das Ziel der deutschen Europapolitik in den folgenden Jahren unmissverständlich deutlich: „Wir wollen den Verfassungsvertrag, auch wenn das heute zum Teil illusorisch scheint, zu einem Erfolg machen. Ohne ein eigenes Selbstverständnis ist Europa nicht möglich.“
Bereits wenige Tage später fand die konstruktive Vermittlerrolle der Kanzlerin beim EU-Gipfel im Dezember 2005, der sich nach zähen Verhandlungen auf den Haushalt der Gemeinschaft von 2007 bis 2013 einigen konnte, große Beachtung. Auch in der Folge war Merkel maßgeblich daran beteiligt, dass der teilweise Stillstand, in den das europäische Projekt geraten war, überwunden werden konnte. In der guten Tradition früherer Bundeskanzler positionierte sie sich erfolgreich als Mediatorin und machte von Beginn an deutlich, dass Deutschland die Interessen der kleinen Länder und der neuen Mitgliedsstaaten aus Mittel- und Mittelosteuropa ernst nimmt und einbezieht, ohne die Beziehung zu Paris – wohin gleichsam als Beglaubigung der besonderen deutsch-französischen Beziehung ihre erste Auslandsvisite geführt hatte –, London, Rom oder Madrid zu vernachlässigen.
Entsprechend hoch gesteckt waren die Erwartungen, die mit dem deutschen EU-Ratsvorsitz – mit den nachfolgenden Präsidentschaften von Portugal und Slowenien erstmals in einer „Dreierpräsidentschaft“ verbunden – einhergingen. Worauf die Bundesregierung neben konkreten politischen Fortschritten ein besonderes Augenmerk richten sollte, machte das Kabinett in einer gemeinsamen Erklärung vom 5. November 2006 deutlich: „Europa wird nur gedeihen können, wenn sich die Bürgerinnen und Bürger mit der großartigen Idee der europäischen Einigung und mit dem historisch einmaligen europäischen Friedensprojekt identifizieren. Allein die Menschen können dem europäischen Gedanken der Einheit in Vielfalt seine Seele verleihen. Die Bundesregierung will dazu beitragen, neues Vertrauen in die europäischen Institutionen zu schaffen und die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger zur europäischen Integration wieder zu stärken.“
Unter dem Motto „Europa gelingt gemeinsam“ vermochte es die deutsche Ratspräsidentschaft in den folgenden Monaten tatsächlich, die Bürgerinnen und Bürger einmal mehr für das Projekt Europa zu gewinnen und zu begeistern. Schon anlässlich der Berliner Jubiläumsfeier zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge, die im März 2007 zu einem einzigartigen europäischen Bürgerfest geriet, wurde der Stimmungsumschwung in der Bevölkerung weithin sichtbar. – Am Ende des deutschen Vorsitzes lag die Zustimmung zur EU in der Öffentlichkeit gar auf dem höchsten Stand seit einem Jahrzehnt.
Indes ging der Stimmungswandel vor allem auch mit deutlich erkennbaren politischen Fortschritten einher. Schon anlässlich der Tagung des Rates am 8./9. März 2007 konnte die Bundeskanzlerin Ergebnisse erzielen, die noch wenige Monate zuvor kaum denkbar erschienen. So einigten sich die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer unter anderem auf eine Weiterentwicklung der Lissabon-Strategie, den massiven Abbau von Bürokratiekosten, den Ausbau erneuerbarer Energien und verbindliche Ziele beim Klimaschutz – den Angela Merkel später auch erfolgreich in den Mittelpunkt des G-8-Treffens in Heiligendamm stellte. Und so ging bereits vom EU-Frühjahrsgipfel unter deutschem Vorsitz ein unverkennbares Signal der Handlungsfähigkeit und des festen Willens zu fortschreitender Integration aus.
Mit dem Ziel angetreten, „dass am Ende der deutschen Ratspräsidentschaft ein Fahrplan für den weiteren Prozess des Verfassungsvertrages verabschiedet werden kann“, gingen schließlich die Ergebnisse des Rates vom 21./22. Juni weit über eine „Roadmap“ für den Vertragsgebungsprozess hinaus. Vielmehr gelang mit der Einigung auf ein sehr präzises Mandat für eine Regierungskonferenz und die Grundzüge eines neuen Reformvertrages auch ein inhaltlicher Durchbruch, bei dem zwar die Bezeichnung „Verfassung“ verworfen, wesentliche Inhalte des Entwurfs jedoch weitgehend bewahrt wurden. Zu den zentralen Vereinbarungen gehören unter anderem die Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens, die Reform der Zusammensetzung der Kommission, die Wahl des Präsidenten des Europäischen Rates, die Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die Rechtsverbindlichkeit der Charta der Grundrechte, die Einführung der „doppelten Mehrheit“ und die stärkere Einbindung der nationalen Parlamente und der Unionsbürger.
Durch die unter maßgeblicher Mitwirkung und Verantwortung von Angela Merkel getroffenen Entscheidungen ist der Weg frei für ein demokratischeres, effizienteres und handlungsfähigeres Europa. Der Reformvertrag soll die EU in die Lage versetzen, aktuellen Herausforderungen wie Klimawandel und Energiesicherheit, Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und der sozialen Dimension der EU, Bekämpfung von internationalem Terrorismus und organisierter Kriminalität ebenso erfolgreich zu begegnen wie Fragen der Immigration und möglicher künftiger Erweiterungen. Und er soll der Union die Fähigkeit verleihen, ihre internationale Verantwortung kraftvoll wahrzunehmen – im Sinne der Bürgerinnen und Bürger und auf der Grundlage des europäischen Wertefundaments: der Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Mit der Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Frau Dr. Angela Merkel, ehrt das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen im Jahr 2008 eine große Europäerin, die mit Mut und Tatkraft, Zielstrebigkeit und Verhandlungsgeschick einen herausragenden Beitrag zum Fortschreiten der Integration und zur Überwindung der Krise der EU geleistet hat.