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„Mehr Stärke nach außen,
mehr Behutsamkeit nach innen!“

Karlspreisverleihung 2014 an Herman Van Rompuy
Der Karlspreisträger Herman Van Rompuy (m.) nach der Verleihung auf dem Balkon des Aachener Rathauses. Ihn begleiten Oberbürgermeister Marcel Philipp (l.) und Dr. Jürgen Linden, Vorsitzender des Karlspreisdirektoriums (r.). (c) Stadt Aachen

Mit dem dringlichen Aufruf, in Europa nicht lediglich Grenzen für Güter und Unternehmen zu öffnen, sondern ein vorteilhafter Ort für seine Bevölkerung zu sein und ihr ein Zuhause, eine Heimat und eine Zuflucht zu geben, hat der Präsident des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy, am heutigen Donnerstag, 29. Mai, den Internationalen Karlspreis zu Aachen entgegengenommen.

Entwicklung in der Ukraine
Unter dem Eindruck der Europawahl und besonders der geopolitischen Entwicklung in der Ukraine betonte Van Rompuy, dass „die Art und Weise wie die Menschen die Europäische Union erleben und zu ihr stehen“ die vielleicht größere Herausforderung sei, als die Prioritäten lediglich auf wichtige Themen wie Arbeitsplätze und wirtschaftliche Erholung, Vertiefung der Währungsunion, Klima und Energie, Freiheit und Sicherheit oder Europas Auftreten in der Welt zu legen: „Wie ist es möglich, dass die Menschen Europa jetzt als Grund dafür sehen, dass sie sich machtlos und ohne Mitspracherecht fühlen – wo dieses Europa doch gedacht war, um sie stärker zu machen und ihre Geschichte wieder in den Griff zu bekommen?“

Projekt Europa
Beim Projekt Europa habe der Schwerpunkt von Anfang an darin gelegen, Raum zu schaffen und Grenzen für Güter, Arbeitnehmer und Investitionen zu öffnen. „Aber wir haben nie wirklich an Europa als Heimat, eine Zuflucht, gedacht, und dafür bezahlen wir jetzt den Preis.“ Zu wissen, wann man als Union zu handeln habe und wann nicht, sei ein schwieriger Balanceakt, sagte Van Rompuy: „Für mich ist die Botschaft an die Union eindeutig: Mehr Stärke nach außen zeigen und mehr Behutsamkeit nach innen – das ist die gemeinsame Aufgabe, der sich alle Regierungen und Institutionen heute stellen müssen.“ Europa dürfe nicht nur ein großer Raum der Freizügigkeit und Freiheiten sein, sondern es müsse auch ein Ort sein, der Heimat sei.

Erinnerung an den Beginn des ersten Weltkriegs
In Erinnerung an den Beginn des ersten Weltkriegs vor 100 Jahren sagte Von Rompuy: „Alles steht und fällt natürlich mit dem Frieden. Ohne Frieden wird niemand sein Glück machen oder ein Zuhause finden.“ Der Karlspreisträger des Jahres 2014 stellt mit Blick auf die geopolitischen Entwicklungen in der Ukraine fest: „Die Destabilisierung durch unseren gemeinsamen Nachbarn Russland ist nicht akzeptabel.“ Den politischen Brückenschlag macht er in der gemeinsamen Kultur aus. Russland sieht Van Rompuy als der europäischen Zivilisation und Kultur zugehörig an: „Ohne Shakespeare oder Balzac gäbe es keinen Dostojewski, wie wir ihn kennen, ohne Gogol keinen Kafka, ohne Tolstoi keinen Thomas Mann.“ Für die Staaten der EU gebe es keine Ambitionen zur Erweiterung der eigenen Grenzen auf Kosten der Nachbarn: „Alle Mitgliedsstaaten haben dieses Kapitel jetzt hinter sich gelassen und blicken mit Zuversicht in die Zukunft.“

Gleich drei Laudatoren
Erstmals in der Geschichte des Karlspreises gab es in diesem Jahr nicht einen Laudator für den Karlspreisträger, sondern gleich drei. Die Premierminister Georgiens, der Republik Moldau sowie der Ukraine warfen als Vertreter von Nicht-EU-Staaten in ihren Reden Schlaglichter von außen auf die Union. Dabei wurde deutlich, dass die europäische Idee eines einigen Kontinents, der Frieden, Demokratie, Sicherheit und Wohlstand sichert und mehrt, und dass die Chancen und Freiheiten, die die Europäer bereits genießen, in vielen Ländern nach wie vor so erstrebenswert sind, wie sie bei Gründung des Internationalen Karlspreis zu Aachen vor mehr als 60 Jahren waren. „Das ist es, worum es in Europa letztlich geht: ein Ort, an dem Länder mit einer gemeinsamen Geschichte und einer geteilten Zukunft zusammenkommen und Frieden in Freiheit finden können“, sagte Irakli Garibashvili, Premierminister Georgiens.

Geopolitisches Ringen
Auch Iurie Leancâ, Premierminister der Republik Moldau, hielt eine begeisterte Rede auf Europa. Er lobte den Preisträger, indem er das europäische Ideal als höheres Ziel lobte. Van Rompuy sei darin die stille Kraft, die das Orchester Europa so lenke, dass es nicht so sehr auf die Einzelstimmen, sondern auf die melodiöse Performance des Konzertes als Ganzes ankomme. Für sein Volk, betonte Leancâ, sei Europa von existenzieller Bedeutung. Das geopolitische Ringen, das sich derzeit im Osten des Kontinents entwickle, sei in erster Linie ein Ringen um die Modernisierung dieser Länder.

Arseni Jazenjuk, Premierminister der Ukraine, verband das Lob an Van Rompuy mit einem deutlichen Zeichen an Russland, ohne das Land direkt zu benennen: „Ich kann mich erinnern, dass Sie alles getan haben, um Blutvergießen in meinem Land zu verhindern und den Frieden zu erhalten. Niemand hat das Recht, neue Grenzen zu ziehen und neue Mauern zu errichten.“

Rückhalt in der Bevölkerung
Auch Aachens Oberbürgermeister Marcel Philipp sah die Preisverleihung „einmal mehr im Zeichen des Ringens um die Sicherung des Friedens“. Die Einigung Europas sei „ohne Zweifel das erfolgreichste Friedensprojekt unseres Kontinents“. Doch dies reiche offenbar nicht mehr aus, um die Menschen in Europa an die Wahlurnen zu bewegen oder gar Renationalisierungsbewegungen zu vermeiden. Die Europäische Union müsse sich vielmehr immer wieder neu erfinden, um die heutigen Probleme zu lösen und um den nötigen Rückhalt in der Bevölkerung zu bekommen. Die dazu nötigen Visionen, die Kraft und die Ausdauer dazu habe Herman Van Rompuy eindrucksvoll und über viele Jahre bewiesen, lobte Philipp in seiner Eröffnungsrede im Krönungssaal des Aachener Rathauses.

Bereits am Morgen der Preisverleihung hat auch der Aachener Bischof Dr. Heinrich Mussinghoff bei einer Messe im Aachener Dom in seiner Predigt auf die gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft verwiesen. Er warnte unter anderem davor, „das Projekt Europa aufgrund nationaler Egoismen an finanz- und geldpolitischen Problemen scheitern zu lassen“. Die Verleihung des Karlspreises für Verdienste um Europa enthalte auch eine Mahnung an Politik, Wirtschaft und Kultur, sagte Mussinghoff.

Nach der Preisverleihung...
Nach der Preisverleihung hat sich Herman Van Rompuy, der sich bereits seit dem Vortag in Aachen aufhielt, den wartenden Aachener Bürgern auf dem Katschhof zwischen Dom und Rathaus gezeigt.

Das Karlspreis-Direktorium der Stadt Aachen hat den Präsidenten des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy als Mittler und Konsensbildner und zugleich als wichtiger Impulsgeber der europäischen Einigung geehrt, der handlungsstark sowie mit großer Integrität und Integrationskraft einen maßgeblichen Beitrag zur Konsolidierung und Weiterentwicklung des Vereinten Europas leiste.

Internationaler Karlspreis zu Aachen
Der Internationale Karlspreis zu Aachen gilt als einer der bedeutendsten europäischen Preise. Er wird seit 1950 an Personen und Institutionen verliehen, die sich um die Einigung Europas verdient gemacht haben. Letzte Preisträgerin war die litauische Präsidentin Dr. Dalia Grybauskaite. Zu den früheren Preisträgern gehörten u.a. Konrad Adenauer (1954), die Europäische Kommission (1969), der spanische König Juan Carlos I. (1982), François Mitterand und Helmut Kohl (1988), Václav Havel (1991), Königin Beatrix der Niederlande (1996), der amerikanische Präsident Bill Clinton (2000), der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker (2006), der Spanier Javier Solana (2007),Bundeskanzlerin Angela Merkel (2008), Jean-Claude Trichet (2011) und Dr. Wolfgang Schäuble (2012). Im März 2004 erhielt Papst Johannes Paul II. einen außerordentlichen Karlspreis.