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Karlspreisverleihung 2023

Ich begrüße Sie im Krönungssaal unseres Rathauses und heiße Sie herzlich willkommen zur Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen 2023 an S.E. Wolodymyr Selenskyj, den Präsidenten der Ukraine, und an das ukrainische Volk.

Meine Damen und Herren Exzellenzen, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Morawiecki,
ich begrüße für die Organe der Europäischen Union Frau Parlamentspräsidentin Metsola und Frau Kommissionspräsidentin von der Leyen, für die Verfassungsorgane des Bundes Sie, sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin Bas, sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz, Frau Staatsministerin Roth und sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts Professor Dr. Harbarth.

Ich begrüße Ihre Exzellenzen, die Botschafterinnen und Botschafter von Bulgarien, Kroatien, Litauen, der Niederlande, der Vereinigten Staaten von Amerika, von Lettland, Frankreich, aus der Ukraine und aus Polen sowie alle Mitglieder des Konsularischen Korps.

Für unser Land Nordrhein-Westfalen darf ich Herrn Ministerpräsident Wüst begrüßen, Herrn Landtagspräsident Kuper, die Mitglieder der Landesregierung und die Abgeordneten des Landtags, ebenso die ehemaligen Ministerpräsidenten unseres Landes Jürgen Rüttgers und Armin Laschet.
Ein herzliches Willkommen auch allen Abgeordneten des Deutschen Bundestages und des Europäischen Parlamentes.

Eine große Freude ist für mich, die zahlreichen ehemaligen Träger*innen des Karlspreises unter uns begrüßen zu dürfen: Frau Dalia Grybauskaite und Martin Schulz sowie die Preisträgerinnen des Vorjahres, Frau Swetlana Tichanowskaja, Frau Veronica Tsepkalo und Tatiana Khomich, die ihre Schwester Maria Khalesnikava hier vertritt.

Ein herzliches Willkommen gilt den Vertretern der Kirchen und Glaubensgemeinschaften, und ganz besonders der ukrainischen Friedensnobelpreisträgerin Olexandra Matviychuk.
Die Mitglieder der Gremien unseres Karlspreises mit Herrn Oberbürgermeister a.D. Jürgen Linden als Vorsitzenden des Karlspreis-Direktoriums heiße ich willkommen.

Seit dem völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 reden wir in Europa von einer “Zeitenwende”.

Das ukrainische Volk, das seit dem Ende der Sowjetunion um seine Souveränität kämpft, das sich dabei immer klar zu den freiheitlichen und demokratischen Werten der Europäischen Union bekannt hat und das bereits seit den 90er Jahren eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union anstrebt, trifft die Folgen dieser Zeitenwende mit aller Härte.

Dieser brutale russische Angriffskrieg gegen die Ukraine dauert nun schon über ein Jahr an. Und viele von uns haben sich schon daran gewöhnt: an die täglichen Schreckensmeldungen, an Waffenlieferungen, an immer neue Drohungen von russischer Seite.

Aber so sehr diese Nachrichten inzwischen zu unserem Alltag gehören, bleibt es unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Menschen, die dieser Krieg ganz direkt betrifft, nicht vergessen werden. Es ist unsere Pflicht, uns ständig ins Bewusstsein zu rufen, dass in unserem Europa gerade einem ganzen Volk ein Leben in Frieden und Freiheit verwehrt wird. Einer ganzen Generation werden ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Perspektiven und Träume genommen. Deshalb sollten wir uns besonders heute vor Augen führen, dass hinter jeder der Schreckensmeldungen einzelne Schicksale stehen.

Anlässlich der Verleihung des Karlspreises an Sie, S.E. Selenskyj, und an das ukrainische Volk, möchte ich daher heute für einen Moment die Situation einiger Menschen abseits der großen politischen Bühne, in der Ukraine und auch hier bei uns in Aachen, in den Mittelpunkt stellen – und ihnen ein Gesicht und eine Stimme geben.

Zwei dieser Menschen sind die heute hier anwesenden Anna Kysil und Julia Piech. Sie beide haben im vergangenen Jahr sofort erkannt, welch große Aufgaben auf uns zukommen und gemeinsam mit anderen engagierten Bürger*innen den Verein “Ukrainer in Aachen” gegründet. Beide Frauen leben schon lange in Deutschland, beide in ständiger Angst und Sorge um ihre Eltern, Geschwister und Freunde in der Ukraine.  Seit dem Krieg hat sich ihr Leben komplett verändert.

Mit großer Leidenschaft halfen sie bei der Unterkunftssuche für ukrainische Kriegsgeflüchtete, sammelten und transportierten humanitäre Hilfsgüter und riefen zu Demonstrationen auf.

Daraus ist inzwischen viel mehr geworden: Der Verein organisiert Sprachkurse, engagiert sich für kulturellen Austausch und möchte damit die ukrainische Geschichte, die Kultur und Tradition für die Geflüchteten als Anker erhalten und gleichzeitig den Menschen in Aachen näherbringen.

So ist “Ukrainer in Aachen” durch die nachhaltigen Bemühungen seiner Gründer*innen heute ein verlässlicher Partner für alle Akteur*innen – der Verein hat mit dazu beigetragen, dass unsere Stadt von Beginn an ein sicherer Hafen für Kriegsgeflüchtete wurde.

Eine von ihnen ist Yuliia Hryniova. Mit ihren drei Kindern und ihrem Mann kam sie als eine der ersten  ukrainischen Flüchtlingsfamilien nach Aachen – ich begrüße sie heute ganz besonders herzlich in unserer Mitte. Die Geschichte von Yuliia Hryniova und ihrer Familie steht stellvertretend für zahllose andere.

Durch die Annexion der Krim 2014 schon einmal zur Flucht aus ihrer Heimat gezwungen, konnte sich die Familie in Butscha in der Nähe von Kyjiw ein neues Zuhause und ein neues Leben aufbauen – bis sich ihre Geschichte durch die erneute Invasion Russlands auf grausame Weise wiederholte. Abermals musste sie mit den Kindern überstürzt ihre Heimat verlassen. Doch schon auf der Flucht erreichte sie die nächste entsetzliche Nachricht. Bei dem Versuch, das inzwischen besetzte Butscha zu verlassen, wurde das Auto von Yuliias Eltern von russischen Soldaten beschossen. Ihre Mutter starb, ihr Vater überlebte schwer verletzt.

Und obwohl Yuliia unermessliches Leid erfahren musste und die Zukunftsperspektive ihrer Familie nach wie vor äußerst ungewiss ist, engagiert sie sich seit ihrer Ankunft in Aachen unermüdlich für humanitäre Hilfe und berät Menschen, die aus der Ukraine fliehen wollen.

Sie hat mit ihrer Schwester Oksana in der Ukraine die Initiative “Sokil” gegründet, die alte und behinderte Menschen von der Front evakuiert und so schon vielen Menschen geholfen hat, ein neues Zuhause zu finden und zu überleben.

Auch mit Hilfe des Vereins “Ukrainer in Aachen” hat sich Familie Hryniova hier integriert, eine neue Sprache gelernt, eine Wohnung und Schulplätze für ihre Kinder gefunden. Doch ihr Mann ist inzwischen zurückgekehrt, um vor Ort zu helfen. Wie er, hat die ganze Familie Hryniova die Ukraine nicht aufgegeben. Denn sie ist nach wie vor ihre Heimat in die sie zurückkehren wollen.

So wie Yuliia Hryniova und ihrer Familie geht es vielen Ukrainer*innen. Deshalb war es nach der akuten Unterstützung von Anfang an unsere besondere Aufgabe, den Menschen neben dem besagten sicheren Hafen Perspektiven zu bieten, die über den Krieg hinausreichen. Die es ihnen ermöglichen, wieder ein Leben in Freiheit zu genießen – hier bei uns oder in ihrer Heimat.

Gemeinsam mit zahllosen Organisationen, Initiativen, Verbänden und ehrenamtlichen Helfer*innen haben wir diese Perspektiven geschaffen – und werden das nachhaltig auch in Zukunft tun. Seite an Seite und in direktem Austausch mit den Ukrainer*innen. Sei es auf lokaler Ebene, wie gerade beschrieben, auf nationaler und internationaler oder aber auch auf kommunaler Ebene im Rahmen einer solidarischen Städtepartnerschaft.

Eine solche Partnerschaft bauen wir zurzeit mit Chernihiv auf, einer Stadt im Norden der Ukraine, die neben ihrer heutigen Einwohnendenzahl und Infrastruktur eine weitere Parallele zu Aachen aufweist – allerdings zu dem Aachen, das die Gründerväter des Karlspreises in ihrer Proklamation von 1949 so beschrieben haben:
“Nach zwei Weltkriegen, in denen die Grenzlage unserer Stadt sich besonders nachteilig auswirkte und in denen das redliche Bemühen mehrerer Generationen um Überwindung imaginärer nationaler Gegensätze sich als vergeblich erwies, müht sich unsere in Trümmer gesunkene Stadt um ihr Lebensrecht.”

So wie Aachen damals, ist Chernihiv heute zu großen Teilen zerstört. Daher gehen wir diese Partnerschaft nicht nur ein, um auch auf diesem Weg unsere bedingungslose Solidarität zum Ausdruck zu bringen, sondern vor allem, um Chernihiv und seine Einwohner*innen in ihrem Bestreben zu unterstützen, ihre Stadt als nachhaltige Stadt wiederaufzubauen – und sie wieder zu ihrer Heimat zu machen. Unsere konkrete Zusammenarbeit startet morgen mit den hier anwesenden Vertreter*innen aus Chernihiv.

Dass es die Möglichkeit einer Rückkehr in die Heimat überhaupt noch gibt, dass Familien wie die von Yuliia Hryniova noch von einer Zukunft in ihrer Heimat in Freiheit träumen können, dass Menschen – ob in der Ukraine, in ganz Europa oder hier bei uns – überhaupt noch Hoffnung auf ein Ende dieses Konflikts haben, wäre wahrscheinlich nicht möglich ohne den Mann, den wir heute gemeinsam mit dem ukrainischen Volk mit dem Karlspreis auszeichnen: den Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj.

“Selenskyj zeigt Mut, Führungsfähigkeit, taktisches Einfühlungsvermögen und er beweist einen neuen, klaren und unmissverständlichen politischen Stil”, heißt es unter anderem in der Begründung. Und weiter: “Er ist Halt und auch Vorbild für sein Volk; er steht gegen Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, ... und für die Zuversicht, das Ziel einer freien, unabhängigen und souveränen Ukraine, die Teil der europäischen Völkerfamilie ist. Selenskyj gibt der Ukraine, aber auch der Europäischen Union Kraft, an dieses Ideal zu glauben. Er ist insoweit auch Vorbild für alle Europäerinnen und Europäer, sich auf die europäischen Ideale und Werte zu besinnen.”

Alle, die hier heute sitzen, dokumentieren durch ihre Anwesenheit, dass auf Europa Verlass ist. Wie ich gerade beschrieben habe, nehmen wir unsere Verantwortung wahr, indem wir uns gemeinsam auf die “Zeit danach” vorbereiten.

Denn so wie Sie, Präsident Selenskyj, “ihr” Volk zusammenhalten und ihm in der größten Krise Kraft und Zuversicht geben, so zeigen Sie uns mit Ihrer Persönlichkeit und Ihrer Entschlossenheit nicht nur, wie wir gemeinsam für Europa und Freiheit eintreten können, sondern so geben Sie auch uns Zuversicht, dass Sie mit uns gemeinsam auf dieselbe Weise einen Weg finden werden, dem ukrainischen Volk eine friedliche und demokratische Zukunft zu geben.

Wir stehen an Ihrer Seite,
an der Seite des ukrainischen Volkes!

Vielen Dank!